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Kannversorgung

  1. Abweichend von den oben erläuterten Grundsätzen kann nach § 1 Abs. 3 Satz 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) eine Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge anerkannt werden, wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht (Kannversorgung). Eine gleichlautende Bestimmung enthalten auch alle weiteren Gesetze des sozialen Entschädigungsrechts.
  2. Folgende medizinische Voraussetzungen müssen erfüllt sein:
  1. aa) Über die Ätiologie und Pathogenese des Leidens darf keine durch Forschung und Erfahrung genügend gesicherte medizinisch-wissenschaftliche Auffassung herrschen. Eine von der medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung abweichende persönliche Ansicht einer sachverständigen Person erfüllt nicht den Tatbestand einer Ungewissheit in der medizinischen Wissenschaft.
  2. bb) Wegen mangelnder wissenschaftlicher Erkenntnisse und Erfahrungen darf die ursächliche Bedeutung von Schädigungstatbeständen oder Schädigungsfolgen für die Entstehung und den Verlauf des Leidens nicht mit Wahrscheinlichkeit beurteilt werden können. Ein ursächlicher Einfluss der im Einzelfall vorliegenden Umstände muss in den wissenschaftlichen Arbeitshypothesen als theoretisch begründet in Erwägung gezogen werden. Ist die ursächliche Bedeutung bestimmter Einflüsse trotz mangelnder Kenntnis der Ätiologie und Pathogenese wissenschaftlich nicht umstritten, so muss gutachterlich beurteilt werden, ob der ursächliche Zusammenhang wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist.
  3. cc) Zwischen der Einwirkung der wissenschaftlich in ihrer ursächlichen Bedeutung umstrittenen Umstände und der Manifestation des Leidens oder der Verschlimmerung des Krankheitsbildes muss eine zeitliche Verbindung gewahrt sein, die mit den allgemeinen Erfahrungen über biologische Verläufe und den in den wissenschaftlichen Theorien vertretenen Auffassungen über Art und Wesen des Leidens in Einklang steht.
  1. Ungewissheiten im Sachverhalt, die von der Ungewissheit in der medizinischen Wissenschaft über die Ursachen des Leidens unabhängig sind, rechtfertigen die Anwendung der Kannvorschrift nicht; dies ist insbesondere der Fall, wenn rechtserhebliche Zweifel über den Zeitpunkt des Leidensbeginns bestehen, weil die geltend gemachten Erstsymptome mehrdeutig sind, oder wenn das Leiden diagnostisch nicht ausreichend geklärt ist.
  2. Ist bei einem Leiden eine Kannversorgung generell in Betracht zu ziehen, muss trotzdem anhand des Sachverhaltes des Einzelfalles stets zuerst geprüft werden, ob der ursächliche Zusammenhang mit Wahrscheinlichkeit zu beurteilen ist. Lässt sich dabei die Frage des ursächlichen Zusammenhangs bereits in ihrer Gesamtheit entscheiden, so entfällt eine Kannversorgung. Ist die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nur für einen Teil des Gesamtleidens gegeben, so ist zu prüfen, ob für den verbleibenden Teil des Leidens die Voraussetzungen für eine Kannversorgung erfüllt sind.
  3. Ist die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem als Schädigungsfolge anerkannten Leiden und einem neuen Leiden nicht gegeben, weil über die Ursache des neuen Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, so ist eine Kannversorgung nur dann gerechtfertigt, wenn das als Ursache in Betracht kommende Leiden aus heutiger Sicht zu Recht anerkannt worden ist. Das heißt bei der Überprüfung der früheren Entscheidung müsste unter Berücksichtigung jeweils neuester medizinischer Erkenntnisse das anerkannte Leiden erneut als Schädigungsfolge anerkannt werden. Kommt bei einem Leiden, für das bereits teilweise eine Versorgung als Rechtsanspruch besteht, über diesen Anteil hinaus eine Kannversorgung in Betracht, so kann diese nur gewährt werden, wenn der als Schädigungsfolge anerkannte Teil des Leidens, der als mögliche Ursache für eine weitergehende Versorgung erörtert wird, zu Recht anerkannt worden ist, oder wenn für den als Schädigungsfolge anerkannten Teil des Leidens die Voraussetzungen für eine Kannversorgung erfüllt sind.
  4. Kann die ursächliche Bedeutung von Schädigungstatbeständen oder von zu Recht als Schädigungsfolge anerkannten Leiden für die Verschlimmerung eines schädigungsunabhängig entstandenen Leidens wegen der insoweit in der medizinischen Wissenschaft bestehenden Ungewissheit nicht mit Wahrscheinlichkeit beurteilt werden, so sind bei der Bemessung des Verschlimmerungsanteils das Ausmaß des Vorschadens, die Art des Leidens, die ihm innewohnende Entwicklungstendenz und der weitere Leidensverlauf zu berücksichtigen. Bei klar abgrenzbaren Verschlimmerungsanteilen ist der GdS in der auch sonst üblichen Weise zu bilden; bei späteren, erneut abgrenzbaren (z. B. schubartigen) Verschlechterungen des Leidens ist dann zu prüfen, ob diese nun mehr mit Wahrscheinlichkeit beurteilt werden können (z. B. nach langem, schubfreiem Intervall oder bei Einwirkung von neuen, in ihrer ursächlichen Bedeutung bekannten Faktoren). Bei nicht klar abgrenzbaren Verschlimmerungen – wenn also die ursächliche Bedeutung von Schädigungstatbeständen auch für den weiteren Verlauf nicht mit Wahrscheinlichkeit beurteilt werden kann (z. B. bei chronischprogredienten Verlaufsformen) – kann je nach Ausmaß des Vorschadens und der hieraus ableitbaren Entwicklungstendenz des Leidens ein Bruchteil des jeweiligen Gesamtleidens oder auch der gesamte Leidenszustand in die Kannversorgung einbezogen werden.